Christoph Hueck (DE)
Die Frage der Gestalterkenntnis ist für die goetheanistische Wissenschaft, insbesondere für die Morphologie, aber auch für andere Phänomenbereiche, von herausragender Bedeutung. Ein Verständnis von "Gestalt" kann aus der Erkenntnistheorie Rudolf Steiners erwachsen.
Gestalt ist ein Kontext, der Details in ein übergeordnetes Ganzes integriert. Aus erkenntnistheoretischer Sicht ist Gestalt eine begriffliche Form, die sich einer Summe von Wahrnehmungsinhalten so anpassen kann, dass diese Inhalte ihrer eigenen Gestaltnatur entkleidet werden und in einem übergeordneten Ganzen aufgehen. Abb. 1 zeigt zwei Beispiele dafür, wie einzelne Elemente in die Form eines Dreiecks oder eines dreidimensionalen Würfels integriert werden können, wenn sie in einer bestimmten Weise angeordnet werden.
Das Dreieck und der Würfel werden nicht "gesehen", weil - wie es oft heißt - "unser Gehirn" ein gestalthaftes Bild formt, sondern weil wir in der beschriebenen Weise einen Begriff (eine innerlich verstandene Bedeutung) mit den Wahrnehmungsinhalten verbinden. Die Phänomene werden also nicht mehr als zufällige Details gesehen, sondern als ein sinnvolles Ganzes "begriffen".
Der Prozess, in dem die Details konzeptionell zusammengefasst werden, geschieht jedoch oft sehr schnell und wird daher kaum bemerkt. Anders verhält es sich bei den beiden folgenden Abbildungen. Bei Abb. 2 lassen sich Konzept und Wahrnehmungen nicht schlüssig zur Deckung bringen, während man bei Abb. 3 unter Umständen einige Zeit suchen und probieren muss, bis man das die Details integrierende Gestaltungskonzept gefunden hat (das sich dann aber so "festsetzt", dass es schwierig ist, nach dem Erkennen der Form wieder nur die einzelnen, für sich bedeutungslosen Details zu sehen).
Wie im Artikel zur allgemeinen Erkenntnistheorie beschrieben, wird aus der einmal vollzogenen Vereinigung von Wahrnehmungsinhalt und Begriff eine "gegenständliche Vorstellung" gebildet, die dann im Gedächtnis verfügbar bleibt. Im Falle des Erkennens wird der gestaltbildende Prozess oft durch das erinnerte gegenständliche Bild überlagert und daher nicht mehr als aktiv erlebt - er geschieht sozusagen automatisch. (Da der Gestaltbildungsprozess in Abb. 2 nicht endgültig abgeschlossen werden kann und somit keine feste Vorstellung gebildet werden kann, bleibt der Versuch, den Begriff mit den Wahrnehmungen zu vereinen, lebendig).
Zeitintegration in der Gestalterkenntnis
Abb. 2 veranschaulicht einen weiteren Aspekt der Gestalterkenntnis. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass man die Figur mit dem Fokus der Aufmerksamkeit gleichsam abtastet. Der Blick wandert von oben nach unten, von hinten nach vorne und wieder zurück. Dabei behält man die gesehenen Eindrücke im Gedächtnis und hat gleichzeitig Erwartungen bezüglich der Eindrücke, die noch kommen werden. Bei dieser Figur lässt sich jedoch das, was man zu sehen erwartet, nicht mit dem, was man tatsächlich sieht, in Einklang bringen. - Gestalterkenntnis ist also nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Integration unterschiedlicher Beobachtungsinhalte.
Die zeitliche Integration der wahrgenommenen Reize zu ganzheitlichen Figuren kann auch an Abb. 4 beobachtet werden. Man sieht jeweils nur einen einzigen Punkt. Die Veränderung seiner Position wird in eine kreisförmige Figur integriert.[1]
Die Gestalterkenntnis entspricht der Gestaltentwicklung
Bei der Bildung einer organischen Gestalt findet ein ähnlicher Prozess auf einer ontologischen Ebene statt, die für die Gestalterkenntnis epistemologisch beschrieben werden kann: Einzelne Teile (Organe) werden durch ein übergeordnetes Ganzes (Organismus) integriert. Auch diese Integration ist sowohl räumlich als auch zeitlich (siehe Organismus & Zeit).
[1] Dieses Experiment wurde von Viktor von Weizsäcker (1942) beschrieben. Er kommentierte: "Die Gestalt einer Bewegung ist Simultanrepräsentierung sukzessiver Vergangenheiten – ist eigentlich ein Akt der Erinnerung" (S. 32). "Die Leistung, welche das Wahrnehmen im Bewegungsweg-Sehen vollbringt, … impliziert das Vermögen der Anamnesis" (S. 33). "Die experimentelle Erfahrung hat nun gezeigt, dass auch … die Richtung der Bewegung ein Wesensmerkmal alles Figur-Wahrnehmens ist. Z.B. nimmt das Auge in vielen Fällen nur aus diesem ›dort-hin‹ verständliche Ergänzungen an der Figur vor, die im Reiz (dem dargebotenen Objekt) überhaupt nicht fundiert sind. Wir nennen dies die Prolepsis der Wahrnehmung und kommen so zu der Feststellung des anamnestisch-proleptischen Charakters der Wahrnehmungsgestalten." (S. 50).
Literatur:
Goethe, Johann Wolfgang von (ohne Datum): Fragmente zur vergleichenden Anatomie. Gestalt und Typus. Morphologie. In: Goethe. Berliner Ausgabe 24. Berlin 1965-1978 (digital 2005), S. 415–435.
Weizsäcker, Viktor von (1942): Gestalt und Zeit. Göttingen 1960.
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