Christoph Hueck (DE) Die Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnis ist die Erkenntnis des Erkennens selbst. Ohne eine Erkenntnistheorie gäbe es einen blinden Fleck im wissenschaftlichen Prozess. Die Erkenntnistheorie muss die Fragen beantworten, wie Erkenntnis zustande kommt und wann ein Phänomen als erkannt gelten kann. Die verschiedenen Erkenntnistheorien, die seit der Antike entwickelt wurden und in der Neuzeit von Empirismus, Rationalismus und Idealismus bis hin zu Positivismus, Konstruktivismus und Strukturalismus reichen, können hier nicht behandelt werden. Stattdessen soll die Erkenntnistheorie Rudolf Steiners in Umrissen skizziert werden, da der anthroposophisch inspirierte Goetheanismus des 20. Jahrhunderts auf ihr aufbaut. Steiner bezog sich zunächst auf Goethe und beschrieb die "Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung" (Steiner 1886), die er in weiteren Schriften vertiefte (Steiner 1884-1897, 1897) und zu einer allgemeinen Erkenntnistheorie entwickelte (Steiner 1892, 1894). Die Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnis muss nach Steiner die Erfahrung sein, weil nur so die Objektivität der Erkenntnis angestrebt werden kann. Alles, was in die Erkenntnis einfließt, muss in irgendeiner Weise erfahrungsmäßig oder "beobachtbar" sein. Steiners Erkenntnistheorie ist also eine Phänomenologie der Erkenntnis selbst. Die Beobachtung zeigt, dass Kognition im Wesentlichen aus zwei Elementen besteht: dem "Gegebenen", das als Weltinhalt ohne eigenes Zutun an das Subjekt herantritt, und der inneren Verarbeitung des Gegebenen durch das "Denken", das Steiner nicht auf abstraktes Kombinieren beschränkt. Das Denken hat vor allem die Aufgabe, Zusammenhänge zwischen den einzelnen Inhalten der Beobachtung herzustellen. Dabei stellt das wissenschaftliche Denken idealerweise nur jene Zusammenhänge wieder her, aus denen die Weltinhalte durch den Akt der Beobachtung herausgerissen wurden. Es sollte den Erfahrungsinhalten nichts hinzufügen, was nicht zu ihnen gehört. So hat man z.B. bei der Beobachtung einer Pflanze immer nur einen bestimmten Ausschnitt ihres Entwicklungsprozesses vor sich, während die "ganze" Pflanze auch ihre vergangenen und zukünftigen Entwicklungszustände umfasst, die durch das Denken der gegenwärtigen Erfahrung hinzugefügt werden. Diese die Phänomene ordnende Tätigkeit des Denkens wird dadurch ergänzt und vertieft, dass das Denken auch die Gesetzmäßigkeiten (Begriffe und Ideen) erfassen kann, die die Phänomene und ihre Zusammenhänge bestimmen. (Für die einjährig blühende Pflanze lässt sich zum Beispiel ein gesetzmäßiger Wechsel von Ausdehnung und Zusammenziehen beschreiben). Während die konkreten Erfahrungsinhalte vom Beobachter abhängen (von seinen Sinnesorganen, seiner räumlichen und zeitlichen Position, seinen Vorerfahrungen usw.), sind Begriffe und Ideen allgemein und gelten für beliebige Fälle und Erkennende. Die Arbeit der Erkenntnis ist zu Ende, wenn die beobachteten und geordneten Phänomene mit den gefundenen Begriffen widerspruchsfrei übereinstimmen.
Aktive Generierung von Konzepten und Ideen Begriffe und Ideen haben für den Erkennenden eine andere Bedeutung als Wahrnehmungen, nicht nur, weil sie allgemein sind, sondern auch, weil der Erkennende von Anfang an ein anderes Verhältnis zu ihnen hat. Wahrnehmungen kommen dem erkennenden Subjekt vorgefertigt zu, während Begriffe und Ideen aktiv innerlich erzeugt werden. Wahrnehmungen sind unverständlich und "dunkel", während Begriffe hell und klar sein können. Man weiß genau, was man mit einem bestimmten Begriff meint, weil man ihn aktiv erzeugt oder, wie Steiner es einmal formulierte, weil man von Anfang an "in dem Prozess gestanden [hat], durch den ein Gedanke geworden ist"[1]. Dieser wichtige Punkt der Steinerschen Erkenntnistheorie wird erst dann voll verständlich, wenn man die innere Produktion von Begriffen und Ideen wirklich beobachtet, was wiederum nur möglich ist, wenn man sie tatsächlich vollzieht. Die Anthroposophie erschliesst ein inneres Erfahrungsfeld, das paradoxerweise nur dann beobachtbar wird, wenn es aktiv gestaltet wird. Die meisten Erkenntnistheorien versuchen, Erkenntnis durch vorgegebene Faktoren zu erklären, z.B. durch Kants apriorische Kategorien, durch Gewohnheit, soziale Prägung, evolutionäre Selektion, Gehirnaktivität usw. Für Steiner geht es darum, dass der Erkennende innerlich aktiv wird. Die ganze Tiefe der Steinerschen Erkenntnistheorie wird deutlich, wenn man bedenkt, dass Steiner nicht nur in der Wahrnehmung, sondern auch in den aktiv hervorgebrachten Begriffen und Ideen Weltinhalte sieht, die nicht vom Erkennenden, sondern durch sich selbst bestimmt sind: "Wir müssen uns zweierlei vorstellen: einmal, daß wir die ideelle Welt tätig zur Erscheinung bringen, und zugleich, daß das, was wir tätig ins Dasein rufen, auf seinen eigenen Gesetzen beruht." (Steiner 1886, S. 51) Hier scheint ein Paradoxon vorzuliegen: Ein Gedanke soll sowohl vom Subjekt erzeugt als auch inhaltlich selbstbestimmt sein. Dies ist nur möglich, wenn das Subjekt im Ursprung des Gedankens gleichsam selbstlos im begrifflichen Inhalt lebt, der Inhalt im Subjekt. Da ist der geistige Ort, wo Subjekt und Objekt in eins zusammenfallen. Rudolf Steiners Auffassung, dass der Mensch in seinem innersten Wesen eins ist mit der idealen, geistigen Welt, dass er als geistiges Wesen in ihr lebt, beruht auf dieser Einsicht.
Die Inhalte der Wahrnehmung erscheinen zunächst als "zusammenhangloses Chaos", in dem keine einzelne Beobachtung bedeutender ist als eine andere (Steiner 1894). Sie stellen also nicht die erfahrene Wirklichkeit dar. Auch die allgemeinen Begriffe werden an sich nicht als real erlebt. Die Erfahrung einer konkreten und doch kohärenten und gesetzmäßig geordneten Wirklichkeit entsteht erst durch die Kombination von Wahrnehmungen und Begriffen.
Aus der Verbindung von einzelnen Wahrnehmungsinhalten und integrierendem Begriff ergibt sich ein Drittes, das Steiner "Vorstellung" nennt. Unsere Wirklichkeit, unser gewöhnliches Weltbild, ist aus solchen Vorstellungen zusammengesetzt. Während Wahrnehmungsinhalte immer wieder neu erscheinen und Begriffe immer wieder neu produziert werden müssen, bleiben einmal gebildete Vorstellungen im Gedächtnis. Ein großer Teil unseres bewussten Lebens und unserer Orientierung in der Welt beruht auf Vorstellungen, die in unserem Gedächtnis vorhanden sind.
Während Wahrnehmungen wandelbar und Begriffe beweglich sind, haben Vorstellungen einen relativ starren Charakter. Das Vorstellungsbewusstsein ist daher wenig beweglich und führt leicht zu einer inneren Austrocknung des Seelenlebens. Die goethesche Weltanschauung setzt dagegen auf die immer neue und frische Wahrnehmung der Phänomene und auf die innere, aktive Beweglichkeit der Begriffe ("... wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele mit dem sie uns vorgeht." (Goethe 1807, S. 14)).
[1] "Die anschauliche Wirklichkeit tritt uns als Fertiges gegenüber. Es ist eben da; wir haben nichts dazu beigetragen, daß es so ist. Wir fühlen uns daher einem fremden Wesen gegenüber, das wir nicht produziert haben, ja bei dessen Produktion wir nicht einmal gegenwärtig waren. Wir stehen vor einem Gewordenen. Erfassen aber können wir nur das, von dem wir wissen, wie es so geworden, wie es zustande gekommen ist; wenn wir wissen, wo die Fäden sind, an denen das hängt, was vor uns erscheint. Bei unserem Denken ist das anders. Ein Gedankengebilde tritt mir nicht gegenüber, ohne daß ich selbst an seinem Zustandekommen mitwirke; es kommt nur so in das Feld meines Wahrnehmens, daß ich es selbst aus dem dunklen Abgrund der Wahrnehmungslosigkeit herauf hebe. Der Gedanke tritt in mir nicht als fertiges Gebilde auf, wie die Sinneswahrnehmung, sondern ich bin mir bewußt, daß, wenn ich ihn in einer abgeschlossenen Form festhalte, ich ihn selbst auf diese Form gebracht habe. Was mir vorliegt erscheint mir nicht als erstes, sondern als letztes, als der Abschluß eines Prozesses, der mit mir so verwachsen ist, daß ich immer innerhalb seiner gestanden habe." (Steiner 1884-1897, S. 160)
Literatur:
Goethe, Johann Wolfgang von (1807, 1817): Bildung und Umbildung organischer Naturen. 1807; Zur Morphologie. Band 1 Heft 1, 1817. In: Goethe. Berliner Ausgabe 24. Berlin 1965-1978 (digital 2005), S. 11-21.
Steiner, Rudolf (1884-1897): Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften. GA 001, 4. Aufl. Dornach 1987.
Steiner, Rudolf (1886): Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. GA 002, 7. Aufl. Dornach 1979.
Steiner, Rudolf (1892): Wahrheit und Wissenschaft. GA 003, Dornach 2009.
Steiner, Rudolf (1894): Die Philosophie der Freiheit. GA 004, 16. Aufl. Dornach 1995.
Steiner, Rudolf (1897): Goethes Weltanschauung. GA 006, 8. Aufl. Dornach 1990.
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