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Wissenschaft und Kunst

Luke Fischer (AU)


Die Beziehung zwischen goetheanistischer Wissenschaft und Kunst kann aus zwei Richtungen betrachtet werden: 1) die Rolle „künstlerischer“ Fähigkeiten innerhalb der goetheanistischen Forschung oder Naturforschung (Hoffmann, Nassar); 2) die Bedeutung der Goetheschen Wissenschaft für verschiedene Kunstformen – Architektur, bildende Kunst, Musik, Poesie, „soziale Skulptur“ (Steiner, Lichtenstern, Fischer, Amrine).

Eine goetheanistische Studie eines Waldes kann damit beginnen, die gesamte „Atmosphäre“ oder das „Gefühl“ der Landschaft und Jahreszeit zu spüren (Bockemühl, Böhme 2017), wie zum Beispiel der Stimmungsunterschied zwischen einem Nadelwald in einer kalten Bergregion und einem tropischen Regenwald. Solche Atmosphären, die Maler und Dichter seit jeher faszinieren, vermitteln einen ersten Eindruck von den spezifischen Qualitäten einer Umgebung, der sich im Laufe der weiteren Recherche immer weiter ausdifferenziert.


Goetheanistische Wissenschaftler zeichnen oft, um ihre Beobachtung von Pflanzen, Tieren, Mineralien und Elementen zu verfeinern. Ein weiterer methodischer Schritt ist die Ausübung dessen, was Goethe „exakte sinnliche Phantasie“ nennt. Durch die genaue Vorstellung des Entwicklungsablaufs und der Morphologie einer Pflanze vertieft der goetheanistische Forscher seinen Einblick in die morphologische Kontinuität ihrer Teile und den spezifischen Charakter des Ganzen. Dies ist vergleichbar zum dem Vorgang, wie ein Dirigent die musikalische Idee einer Symphonie fantasievoll nachbildet und sie dadurch als ein in sich differenziertes und ausdrucksstarkes Ganzes begreift.


Das Ziel der Goetheschen Wissenschaft besteht nicht nur darin, zu diskursiven Fakten zu gelangen (obwohl Faktenforschung durchaus zu ihr gehört [siehe z. B. Rosslenbroich]). Es handelt sich vor allem um eine kontemplative Methode des Verstehens, die Goethe als „höhere Empirie“ beschreibt, bei der der Erkennende die Erfahrung geistiger Identität mit dem Erkannten erlangt und bewusst an den schöpferischen Prozessen der Natur teilnimmt. Das Erleben der schöpferischen Ideen in den Naturphänomenen (z. B. Goethes Urpflanze) hängt mit dem Impuls zum künstlerischen Schaffen zusammen, den die Natur in einem Künstler auslösen kann. Die "Einbildungskraft" des goetheanistischen Wissenschaftlers darf jedoch nicht willkürlich werden und muss auf den Forschungsgegenstand fokussiert bleiben.


Aus diesen Gründen verwenden einige goetheanistische Wissenschaftler besondere Ausdrucksformen, um die „Ergebnisse“ ihrer Forschung zu kommunizieren. Goethes Gedicht „Die Metamorphose der Pflanzen“ ruft in der Phantasie des Lesers den zeitlichen Ablauf und die Gesetzmäßigkeit der pflanzlichen Metamorphose hervor, die sein wissenschaftlicher Aufsatz diskursiv ausarbeitet (Böhme 1989). Ähnlich verhält es sich, wenn ein goetheanistischer Wissenschaftler den ganzheitlichen Charakter einer Pflanzen- oder Tierart darstellen möchte (Holdrege). Oft muss dazu eine neue Sprache gefunden werden.


Die Moderne betrachtet Wissenschaft als objektiv und Kunst als subjektiv, aber Goethes Forschung zeigt, wie künstlerische Fähigkeiten geübt werden können, um echte Einblicke nicht nur in uns selbst, sondern auch in die Natur zu ermöglichen. Künstler können daher von Goethes Forschung lernen, wie sie ihre Vorstellungskraft zu einem Organ echter Einsicht entwickeln können.


Goethe charakterisiert Kunst als „das Geistig-Organische“. In diesem Sinne können organische Architektur, Ökopoesie, der metamorphotische Ablauf und die ganzheitliche Einheit einer Melodie gesteigerte Ausdrucksformen (Steigerungen) der Prinzipien der belebten Natur sein. Kunst kann als menschliche, spirituelle Weiterentwicklung der schöpferischen Prozesse der Natur verstanden werden (Steiner, Lichtenstern, Fischer). Der Goetheanismus birgt das Potenzial, die Gräben zwischen Wissenschaft und Kunst, Natur und Geist, Umwelt und Menschlichkeit zu heilen.



Weiterführende Literatur:


Amrine, Frederick (2018): The Music of the Organism: Uexküll, Merleau-Ponty, Zuckerkandl, and Deleuze as Goethean Ecologists in Search of a New Paradigm. Goethe Jahrbuch 22, 2018, S. 46-72.


Bockemühl, Jochen (1992): Erwachen an der Landschaft. Dornach 1992.


Böhme, Gernot (2017): The Aesthetics of Atmospheres (Ambiances, Atmospheres and Sensory Experiences of Spaces), ed. Jean-Paul Thibaud, London 2017.


Böhme, Gernot (1989): Für eine ökologische Naturästhetik . Frankfurt am Main 1989.


Fischer, Luke (2011): Goethe contra Hegel: The Question of the End of Art. Goethe Yearbook 18 2011, pg. 127-157


Hoffmann, Nigel (2013): Goethe’s Science of Living Form: The Artistic Stages. Ghent, NY 2013.


Holdrege, Craig (2023): Seeing the Animal Whole - and Why It Matters. Great Barrington, MA 2023.


Lichtenstern, Christa (1990): Die Wirkungsgeschichte der Metamorphosenlehre Goethes: Von Philipp Otto Runge bis Joseph Beuys. Weinheim 1990.


Nassar, Dalia (2022): Romantic Empiricism: Nature, Art, and Ecology from Herder to Humboldt Oxford 2022.


Rosslenbroich, Bernd (2014): On the origin of autonomy. A new look at the major transitions in evolution. Cham 2014.


Steiner, Rudolf (1888): Goethe as Father of a New Aesthetics. In: Art and Theory of Art: Foundations of a New Aesthetics, trans. Dorit Winter and Clifford Venho. Great Barrington, MA 2021.

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