Nigel Hoffmann (AU)
Steiner und andere seiner Zeit sprachen vom sozialen Organismus. Wenn die Gesellschaft lebendig ist, dann kann sie nur durch ein lebendiges, phantasievolles Denken richtig verstanden werden. Steiner empfiehlt, dass eine goetheanistische Betrachtung der Natur - der Pflanzen- und Tiergestalt und der menschlichen Physiologie - ein Denken ausbildet, "... das es ermöglicht, den sozialen Organismus zu begreifen"[1].
Was für ein Lebewesen ist die menschliche Gesellschaft? Wir können sie aus zwei Richtungen wahrnehmen: Wir können sagen, dass "die Einzelnen ihre Wirklichkeit sind" (Max Stirner)[2]. Oder wir können sagen, dass "das Wahre das Ganze ist" (Hegel)[3]. Es entsteht ein Bild von der Gesellschaft als einer polarisierten Organisation; den einen Pol kann man "Individualität" nennen, den anderen "Kollektivität".
Polaritäten sind generativ; wie Goethe beobachtete, bringen die verstärkten Pole "ein Drittes hervor, etwas Neues, Höheres, Unerwartetes"[4] Zwischen den Polen von Licht und Dunkelheit entsteht das Reich der Farbe. Das dazwischen liegende, vermittelnde Element nannten Kant und Schelling die Kopula (lateinisch: "das, was verbindet")[5]. Zwischen den sozialen Polen Individualität und Kollektivität entsteht eine vermittelnde Sphäre, die die Pole sowohl unterscheidet als auch vereint. Dieses dreigliedrige Gebilde ist der Archetypus des Sozialen.
So sehen wir, wie die Dreigliedrigkeit der Gesellschaft, die sich in der vergangenen und gegenwärtigen Zivilisation mehr oder weniger stark verwirklicht hat, in der Zukunft bewusst gestaltet werden kann. Der Pol der Individualität kommt am stärksten im geistig-kulturellen Leben zum Ausdruck - zum Beispiel in der Kunst und in der Bildung. Der Kollektivitätspol verwirklicht sich am stärksten im Wirtschaftsleben, wo Zusammenarbeit und Solidarität bei der Produktion von Gütern und der Erbringung von Dienstleistungen an erster Stelle stehen. Das Bindeglied zwischen diesen beiden großen sozialen Sphären ist das Rechtsleben, der juristisch-politische Bereich. Ein Recht ist vermittelnd; es ist individuell (Individualitätspol), aber es gilt gleichermaßen für alle (Kollektivitätspol).
Jedes soziale Phänomen - jede wirtschaftliche, rechtliche und kulturelle Form und jeder Prozess, bis hin zu den kleinsten Dingen - kann im Hinblick auf die archetypische soziale Dreigliederung betrachtet und verstanden werden. Steiner nannte die soziale Dreigliederung einen "neuen Goetheanismus"[6] und bezeichnete sie auch als "einen Goetheanismus für das zwanzigste Jahrhundert", dem wir hinzufügen können - und darüber hinaus.[7]
Literature:
N. Hoffmann, Realising Society's Threefold Wholeness: A New Goetheanism, Clairview Books, West Hoathly, 2024 (im Druck).
[1] R. Steiner, The Renewal of the Social Organism, Anthroposophic Press, Spring Valley, 1985, p. 126.
[2] M. Stirner, The Ego and Its Own, Cambridge University Press, 1995, p. 329.
[3] The phrase “the true is the whole” is from the preface to Hegel’s Phenomenology of Spirit.
[4] J. W. von Goethe, Scientific Studies, (trans. D. Miller), Suhrkamp Publishers, NY, 1988, p.156.
[5] See for example M. Thomas, “The Mediation of the Copula as a Fundamental Structure in Schelling’s Philosophy,” Schelling-Studien, 2 (2014), pp. 20-39.
[6] R. Steiner, Freedom of Thought and Societal Forces, Steiner-Books, Great Barrington, 2008, pp. 98-105.
[7] R. Steiner, Lecture November 22nd, 1920.
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