Christoph Hueck (DE)
Lebewesen sind nicht nur räumlich, sondern vor allem auch zeitlich organisierte Wesen. Ihre Gestalt ist immer ein aktueller Ausschnitt aus einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess und kann daher nur unter Berücksichtigung der Zeit verstanden werden. Goethe schrieb: „Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre“, und eine umfassende Verwandlungslehre muss deshalb auch nach dem Wesen der Zeit fragen.
Der klassische, Newtonsche Begriff einer linearen, gleichförmig dahinfließenden Zeit reicht nicht aus, um lebendige Organismen und ihre Entwicklung zu verstehen. Er kann nur auf tote Materie angewendet werden, die linearer Kausalität unterliegt. Lebende Organismen hingegen integrieren ihre Vergangenheit und Zukunft in ihren gegenwärtigen Lebensprozessen (Schad 1992). Sie leben in einer Zeitstruktur, in der ein unbewusstes Fortwirken der Vergangenheit und ein ebenso unbewusstes Hereinwirken der Zukunft immer in der Gegenwart anwesend und wirksam sind. Biologische Zeit ist daher integrierende Zeit, sie ist anamnestisch, aktual und proleptisch (antizipatorisch) zugleich. "... dann ist Vergangenheit beständig, das Künftige voraus lebendig, der Augenblick ist Ewigkeit" heißt es entsprechend bei Goethe. Das Newtonsche Zeitverständnis "zerstört" dagegen das Konzept der biologischen Zeit und damit das Konzept des Organismus überhaupt (von Weizsäcker 1942).
Um organische Entwicklung zu verstehen, muss die abstrakte Vorstellung von Zeit als konstantem Maß und Medium für Veränderungen durch ein phänomenologisches Zeitverständnis ersetzt werden. Ohne Veränderung würden wir Zeit überhaupt nicht erleben und hätten daher auch keine Vorstellung davon. Wir müssen daher die Zeit nicht "von außen" und abstrakt, sondern "von innen" und konkret, d.h. unser inneres Zeiterleben anschauen.
Wenn wir die erlebte Zeit betrachten, fallen sofort drei verschiedene Arten auf: (1) Die unveränderliche Vergangenheit, die durch Erinnerung erfasst wird; (2) die Gegenwart, in der wir die Welt und uns selbst darin wahrnehmen; und (3) die Zukunft, die wir mehr oder weniger unbewusst ständig erwarten. (Der gegenwärtige Moment ist für das menschliche Erleben übrigens kein „expansionsloser Punkt“, sondern ein Zeitraum von 2-3 Sekunden [Pöppel 1984], was in etwa der Länge eines Atemzugs entspricht). Ein Gedankenexperiment kann zeigen, was mit dem Zeiterleben geschehen würde, wenn man keine Erinnerung an die Vergangenheit oder keine Erwartung der Zukunft hätte: Die Welt würde völlig zusammenhangslos oder wie mit Brettern vernagelt erscheinen. Schließlich setzt die Erfahrung von Zeit voraus, dass etwas im Fluss der Veränderungen unveränderlich bleibt: das erkennende Subjekt. Denn es ist das „Ich“, das erinnert, wahrnimmt und erwartet. Ohne ein kontinuierliches Ich-Bewusstsein könnte man kein Zeitbewusstsein haben, denn man würde einfach mit dem Strom der Zeit mitschwimmen.
Rudolf Steiner führte das Konzept eines doppelten Zeitstroms ein: Von der Vergangenheit in die Zukunft und von der Zukunft in die Vergangenheit. Steiner verbildlichte diese zwei Zeitströme durch zwei gegenläufige Pfeile (Steiner 1910). Der gegenwärtige Moment ist das Zusammentreffen dieser beiden Strömungen, des bereits Gewordenen und des immerfort Werdenden. Zur vollen Charakteristik der Gegenwart gehört außerdem noch die Begegnung von "Ich" und Welt, die nach Steiner "senkrecht" zur Zeitdimension des "Doppelstroms" stehen. Diese Kreuzfigur verbildliche die Struktur des gegenwärtigen seelischen Erlebens.
Die erstaunliche Beobachtung ist nun, dass die innere, qualitative Erfahrung der Zeit genau der lebenden Struktur eines Organismus entspricht (Hueck 2012). Lebewesen stammen immer aus der Vergangenheit, in der sie (oder ihre Vorfahren) entstanden sind; sie erscheinen immer als gegenwärtig wahrnehmbare Formen in Bezug auf ihre Umgebung; und sie tragen ihre eigene Zukunft der Entwicklung in sich. Schließlich haben sie ein (zumindest in absehbaren Zeiträumen) unveränderliches Wesen, ihre Art. So wie das Ich immer ein Ich ist, so ist die Rose immer eine Rose, sei es als Samen, als Keimling, als sprießende, blühende oder fruchtende Pflanze.
Durch die innere Beobachtung der Zeiterfahrung können daher Qualitäten des Lebendigen erforscht werden.
Wolfgang Schad hat diese Parallelisierung von organischer Zeitstruktur und bewusster Zeiterfahrung kritisch diskutiert (Schad 2013). Für eine genauere Diskussion siehe "Kontroversen".
Weiterführende Literatur:
↑ Hueck, Christoph (2012): Evolution im Doppelstrom der Zeit. Eine innere Morphologie des organischen Denkens. 2. überarb. Ausg., Stuttgart 2023. Online-Version.
↑ Schad, Wolfgang (1992): Vom Verstehen der Zelt. Naturwissenschaftliche Kriterien für eine Korrektur des Zeitbegriffs. In: Die Drei, 9/1992, S. 679–691.
↑ Schad, Wolfgang (2013): Verstehen wir das Leben in Entwicklung? In: Jahrbuch für Goetheanismus. Stuttgart 2013, S. 187–207.
↑ Steiner, Rudolf (1910): Vortrag vom 04.11.1910 in: Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie. GA 115, Dornach 2012.
↑ Pöppel, Ernst (1984): Erlebte Zeit und Zeit überhaupt. In: Das Phänomen Zeit. 1. Aufl. Wien 1984, S. 135-146.
↑ Weizsäcker, Viktor von (1942): Gestalt und Zeit. Göttingen 1960.
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