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Prinzipien der organischen Gestalt-Bildung

Christoph Hueck (DE)


Die Entwicklung einer organischen Form ist für die materialistische, reduktionistische Auffassung der Wirklichkeit ein unlösbares Rätsel. Wir wissen, dass die Entwicklung der Formen durch Veränderung der Gene (oder der Entwicklungsbedingungen) beeinflusst werden kann, aber wir können die Formen weder aus den Genen noch aus den Entwicklungsbedingungen erklären.


Der Goetheanismus verfolgt einen phänomenologischen Ansatz zur Beschreibung der Gestaltbildung. Dabei nimmt man die Beobachtungen ernst und versucht nicht, die Phänomene auf materielle Ursachen "hinter ihnen" zu reduzieren.


Phänomenologisch lassen sich zwei Hauptprinzipien der organischen Bildung unterscheiden: Ein Aufbauprinzip, durch das organische Materie erzeugt wird, und ein Gestaltungsprinzip, das oft mit einem Abbau verbunden ist (vgl. Hueck 2023). Die Hand von Wirbeltieren beispielsweise wird so gebildet, dass zunächst durch wiederholte Zellteilung das Material für sie aufgebaut wird, aus dem dann durch Abbau (Apoptose) der Interfingersubstanz die Finger gebildet werden (Abb. 1).

Abb. 1: Entwicklung der menschlichen Hand durch Aufbau und Abbau (Pfeile) (Husemann 2015, S. 79)

Das aufbauende Prinzip wirkt rhythmisch und führt zu repetitiven, metamorphen Strukturen des organischen Körpers, das Form- und Abbauprinzip führt zur Bildung prägnanter, integrierter und vielfach hochmobiler Gesamtgestalten (vgl. Portmann 1965).

Abb. 2: Gestaltentwicklung der Blütenpflanze zwischen Ausdehnung- und Begrenzung.

Das Aufbauprinzip ist an den Blättern von Pflanzen deutlich zu erkennen. Es wirkt zeitlich in der rhythmischen Wiederholung der Blattbildung. Das Gestaltungsprinzip hingegen führt zur räumlichen Integration des organischen Materials und damit zu einer prägnanten Gesamtgestalt (z.B. zur Blüte). In der Blüte geht die Vitalität des Blattbereichs fast vollständig verloren und wird gegen die räumliche Ausstrahlung von Farben und Duft sowie die Beweglichkeit der Samen ausgetauscht. An die Stelle des vegetativen Prinzips der Blattvermehrung tritt das generative Prinzip der Trennung in die beiden Geschlechter. In der Blüte sehen wir den Kontakt der Pflanze mit dem Seelenleben von Tier und Mensch.

Abb. 3: Wachstum und Gestaltung in der Entwicklung eines Blattes des Rainkohls.

Auch die Entwicklung eines einzelnen Blattes kann durch diese beiden Bildungsprinzipien beschrieben werden (Abb. 3).


Wir können daher zwei qualitativ unterschiedliche Bildungsprinzipien beschreiben, die bei jedem Organismus und in jedem Entwicklungsstadium mit unterschiedlicher Gewichtung zusammenwirken: Einem aufbauenden, durch zeitliche Wiederholung relativ einförmig wirkenden, vitalen, substanzschaffenden, und einem gestaltenden, abbauenden, teilenden und zugleich räumlich zu einer Gestalt integrierenden und zu Beweglichkeit und seelischer Ausstrahlung führenden.

Abb. 4: Entsprechungen zwischen Schmetterling und Pflanze: Ei/Samen, Raupe/Blatt, Puppe/Knospe, Imago/Blüte (Husemann 2015, S. 157)

Dieselben Prinzipien sind in der Entwicklung eines Schmetterlings zu sehen (Abb. 4): der metamer strukturierte Körper der Raupe, der sehr vital ist und oft durch wiederholte Häutungen wächst, und die Umwandlung (durch vollständigen Ab- und Umbau in der Puppe) in eine ganzheitlich integrierte Gestalt des Schmetterlings, die durch ihre Flugfähigkeit, ihre kilometerweite Geruchssensibilität und auch durch ihre Farbigkeit in die sie umgebende Raumwelt ausstrahlt. Im Schmetterling teilt sich die Asexualität der Raupe in die beiden Geschlechter, die bis auf die Fähigkeit zur Fortpflanzung fast alle Vitalität verloren haben.


Andreas Suchantke und Wilhelm Hoerner haben die Übereinstimmung zwischen der Metamorphose bei Blütenpflanzen und Schmetterlingen und die darin wirksamen Bildungsprinzipien genau beschrieben (Suchantke 1966, Hoerner 1991, vgl. Metamorphose bei Pflanze & Schmetterling).


Schon bei Goethe findet man einen Hinweis auf diese Gestaltbildungsprinzipien, die er interessanterweise mit der Höherentwicklung eines Organismus in Beziehung sah: »Je unvollkommener das Geschöpf ist, desto mehr sind diese Teile einander gleich oder ähnlich, und desto mehr gleichen sie dem Ganzen. Je vollkommner das Geschöpf wird, desto unähnlicher werden die Teile einander. In jenem Falle ist das Ganze den Teilen mehr oder weniger gleich, in diesem das Ganze den Teilen unähnlich. Je ähnlicher die Teile einander sind, desto weniger sind sie einander subordiniert. Die Subordination der Teile deutet auf ein vollkommneres Geschöpf.« (Goethe 1807, 1817, S. 15)


Wenn man diese beiden Bildungsprinzipien und ihr Zusammenwirken einmal erkannt hat, kann man sie in vielen, ja wahrscheinlich in allen organischen Gestaltbildungen finden, wobei, wie gesagt, die Gewichtung der beiden Prinzipien unterschiedlich sein kann.



Literatur:


Goethe, Johann Wolfgang von: Bildung und Umbildung organischer Naturen. 1807; Zur Morphologie. Band 1 Heft 1, 1817. Berliner Ausgabe Bd. 24.


Hoerner, Wilhelm: Der Schmetterling. Metamorphose und Urbild. Stuttgart 1991.


Hueck, Christoph: Evolution im Doppelstrom der Zeit. Morphologie des organischen Erkennens. 2. überarbeitete Neuausgabe, Stuttgart 2023. Online-Version.


Husemann, Armin: Form, Leben und Bewusstsein. Einführung in die Menschenkunde der anthroposophischen Medizin. Stuttgart 2015.


Portmann, Adolf: Die Tiergestalt. Studien über die Bedeutung der tierischen Erscheinung. Freiburg i. Br. 1965.


Suchantke, Andreas: Die Metamorphose bei Blütenpflanze und Schmetterling. In: Elemente der Naturwissenschaft 4/1966, S. 1-7.

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