Christoph Hueck (DE)
In dem Artikel Gestalt-Erkenntnis: Wahrnehmungen & Begriffe wird beschrieben, wie Gestalt durch die Verbindung von Sinneseindrücken und Begriffen (innerlich verstandenen Bedeutungen) wahrgenommen wird. Die Wahrnehmung von Gestalt ist aber auch ein Prozess, an dem die äußeren und inneren Bewegungen des Betrachters beteiligt sind.
Beim Betrachten einer Figur bewegt sich das Auge und tastet die Figur mit dem Blick ab. Abb. 1 zeigt die Augenbewegungen einer Testperson beim Betrachten eines Porträts.
Es gibt auch "innere" Bewegungen, die auf die wahrgenommenen Eindrücke gerichtet sind und durch die sie eine stärkere Prägnanz erhalten. Was damit gemeint ist, lässt sich an Abb. 2 beobachten. Man kann den Reiter entweder auf den Betrachter zukommen oder von ihm wegreiten sehen. Die erlebte Dynamik ist in beiden Fällen völlig unterschiedlich und kann sogar mit unterschiedlichen Gefühlen verbunden sein: Ein Gefühl der Nähe, der Präsenz und der Erwartung im Falle des sich nähernden Reiters, ein Gefühl der Weite, des Ausatmens und des Abschieds im Falle des wegreitenden. Bei dem sich nähernden Reiter konzentriert sich das innere Gefühl auf den Raum zwischen Reiter, Pferd und Betrachter, bei dem Abreitenden wird die offene Landschaft stärker erlebt.
Solche Eindrücke und Gefühle sind eindeutig mit der eigenen körperlichen Selbsterfahrung verbunden. Mit subtiler Aufmerksamkeit lässt sich beobachten, wie die Dynamik der Bewegung des Reiters im Bereich des gesamten Rumpfes oder sogar des ganzen Körpers erlebt wird, die Gefühle von Weite oder Bedrückung im Bereich von Herz und Lunge (Puls und Atmung).
Neben solchen inneren Bewegungen sind auch andere Erfahrungen an der Gestaltwahrnehmung beteiligt. Man nimmt auch die relative Position einer Figur im Raum wahr. Zum Beispiel "sieht" man, ob ein Bild schief an der Wand hängt oder nicht.
Wenn man eine Blüte betrachtet, hat man einen Eindruck, ob sie sich noch entfaltet oder schon zu welken beginnt. Man "spürt" die Vitalität. Und schließlich ist die optische Abgrenzung einer Figur von ihrem Hintergrund ein sublimiertes Tasten.
So sind die Eindrücke von Berührung (Tasten), Leben, Bewegung und Gleichgewicht mit dem Sehen verbunden. Dies sind Eindrücke, die wir durch die Selbstwahrnehmung unseres Körpers (Propriozeption) haben und die dem Tast-, Lebens-, Bewegungs- und Gleichgewichtssinn zugeordnet werden (siehe 12 Sinne).
Mit solchen inneren Bewegungen und Empfindungen kann man auch die Entwicklung organischer Formen verfolgen. Die Bewegungen, die man dabei erfährt, kann man als Umbildungs- oder Metamorphosebewegungen bezeichnen. Durch solche inneren dynamischen Gestalterfahrungen kann man die formenden Kräfte beobachten, die bei der Gestaltung von Organismen am Werk sind (vgl. auch Kognitives Empfinden).
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